83-Jährige bringt’s Volk zum Tanzen
Ingeborg Heinrichsen
Pünktlich um 19:40 Uhr steigt Ingeborg Heinrichsen aus ihrem alten VW-Bus. Fünf Minuten später steht die 83-Jährige vor der Tür der Geretsrieder Mittelschule, wo sie bayerischen und alpenländischen Volkstanz unterrichtet. Die Grande Dame der Generation Ü80 fummelt an ihrem Schlüsselbund, streckt ihre Nase Richtung Türschloss und betritt nur wenige Sekunden später den Übungsraum.
Nach und nach trudeln die Tänzer ein. Alle schick in Tracht. Alle zwischen 45 und 80 Jahren. Der 93-Jährige Hermann ist der Älteste und kommt in Begleitung einer jüngeren Frau. Hermann strahlt. Als Ingeborg zum Tanz aufruft, springt er wie ein junger Hirsch im Jagdfieber aufs Parkett. Bevor seine Begleitung überhaupt reagieren kann, steht er auch schon ungestützt im Tanzkreis. Man reicht sich die Hände. Fürs gute Gefühl und die richtige Position. Hermann kennt das. Seit 11 Jahren ist er Mitglied im Isartaler Volkstanzkreis.
Senioren im Dreivierteltakt
Fünf Pärchen bilden sich. Es ertönt die Melodie von Herzog Max in Bayern. Hermann schwingt den Arm seiner Partnerin, macht einen Doppelschritt nach vorne, dreht sich um die eigene Achse, fasst kurz darauf die Hände seiner Partnerin und wirbelt sie im Dreivierteltakt vor sich her. Als der letzte Ton vom „Zither Maxl“ erklingt, braucht Hermann eine Pause. Findet zumindest seine Begleiterin. Hermann findet das nicht. lässt sich aber auf einen Stuhl führen.
Bei der nächsten Unterbrechung ist Ingeborg zur Stelle und gratuliert dem Pausierenden zum Geburtstag. Hermann freut sich. Den Einwand der 65-jährigen Annemarie, dass Hermann doch erst kürzlich Geburtstag hatte, nimmt sie lachend zur Kenntnis. „Ich meinte ja auch deine Tochter“, flunkert Ingeborg. Und nach der ebenso knappen wie überflüssigen Frage „Wo ist sie denn?“ trällert die Gruppe bereits ein Geburtstagsständchen. Hermann grinst bis über beide Ohren.
Ansage 1: “Nur sie dreht”
Indes dreht Ingeborg die Musik auf. Sie muss sich etwas anstrengen, damit ihre Ansagen gehört werden. “Nein. Nur sie dreht.” Ihre Stimme klingt sanft, aber etwas kratzig. Die Tänzer stört das nicht. Diszipliniert folgen sie Ingeborgs Worten und zeigen Haltung, wenn sie dazu aufgefordert werden.
Wohlwollend beobachtet Ingeborg, wie sich ihre Schützlinge zum Rhythmus der Musik bewegen. Mit ihren 93 Jahren hat sie keine Kondition eingebüßt, nur ihr Körper ist leicht nach links gekrümmt. So als hätte ihn irgendwann einmal jemand verbiegen wollen. Ihr akkurat geflochtener Zopf zeigt die spielerische Strenge, mit der sie die Messlatte für sich und andere hochzusetzen vermag.
Eine ausgezeichnete Frau
Ohne ihren starken Willen, ihre Entschlossenheit und ihren Mut hätte es Ingeborg Heinrichsen vor 37 Jahren vermutlich nicht geschafft, eigene Volkstanz-Choreografien für die Ewigkeit zu entwickeln. Ausschlaggebend dafür war der 7. November 1982. Damals fand im Festsaal des Klosters Benediktbeuern eine Tanzveranstaltung statt. „Dirndl, tanz mit mir“, so lautete der Titel. Ingeborg Heinrichsen bekam den Auftrag, gemeinsam mit dem Tegernseer Ensemble „Musica Classica Popularis“ eine Choreografie einzustudieren.
Seither hat sie 42 Choreografien entworfen, ist Kulturpreisträgerin der Stadt Geretsried und wird im Oktober dieses Jahres erneut für ihr Engagement um den Erhalt des bayerischen Tanzes ausgezeichnet. Dreher, Kuckuckspolka, Walzer, Mazurka, Baorischer, Hiatamadl – der Tanzvielfalt sind keine Grenzen gesetzt. Eine besondere Form der volkstümlichen Tänze aus Bayern sind die Figurenlandler, sogenannte Werbetänze, bei denen die Burschen mithilfe verschiedener Figuren (Drehern, Wicklern, Joch, Herzerl, Fernsterl, Knoten) um ihre Liebste tanzen.
Was für ein Lotterleben!
Tänze, die laut Isartaler Volkstanzkreis mitunter Gefahren bergen. So soll es vorgekommen sein, dass ein Madl so heftig gedreht wurde, dass es für immer von der Tanzfläche verschwand. Auch soll es Burschen gegeben haben, die durch einen zu innigen “Fensterl”-Blick ihre Freiheit verloren. Manche Tanzknoten konnten erst gar nicht aufgelöst werden, sodass Tanzpartner für immer miteinander verbandelt waren.
Diejenigen, die den ständigen Partnerwechsel lieben, kommen beim Volkstanz heute noch auf ihre Kosten. Denn das Lotterleben auf dem Parkett verspricht glückliche Abwechslung im Minutentakt. Brauchtumstänze haben sich seit dem 18. Jahrhundert immer wieder mit Modetänzen vermischt. Sie wurden von einer breiten Bevölkerungsschicht getanzt und sind heute wie damals nichts Anderes als ein Ausdruck von Fröhlichkeit.
Vom roten Faden getragen
Die in Guben in der Niederlausitz geborene Ingeborg Heinrichsen hat alle ihre Choreografien niedergeschrieben. Sie sind in einem Buch unter dem Titel „Tanzschatz“ zusammengefasst und veröffentlicht worden. Ingeborg Heinrichsen war neun Jahre alt, als sie nach Münsing in Oberbayern kam. Sie machte ihr Abitur und wurde Volksschullehrerin. Zunächst brachte sie nur ihren Schülern das Tanzen bei, später übernahm sie den „Münchner Tanzkreis Thomas Morus“. Inzwischen ist sie mehrfach für ihren unermüdlichen Einsatz ausgezeichnet worden. Der Tanzkreis in Geretsried weiß ihr Engagement zu schätzen.
Dort ist man inzwischen beim letzten Lied angekommen. Der 93-jährige Hermann hat sich noch einmal auf die Tanzfläche gewagt. Er strahlt. Ingeborg Heinrichsen stoppt die Musik. Dann verteilt sie Zettel, auf denen ein bayerisches Lied geschrieben steht. Wieder gibt sie den Ton an. Alle stimmen mit ein und singen, als wäre es ein Abschied für immer. Nach und nach verlassen die Tänzer das Parkett. Erneut fummelt die 83-Jährige an ihrem Schlüsselbund, dann schließt sich die Tür. Nur ihre roten Wollsocken leuchten im dunklen Gang des Schulgebäudes. Es ist, als ob an ihren Füßen die ungestillte Leidenschaft funkelt, mit der sie ihr ganzes Leben lang vorwärts getrieben wurde. Es ist, als ob der rote Fade immer da sein wird. Und die nächste Generation einwickelt.