Dienstag, März 19, 2024

Vor Sonnenuntergang

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Vor Sonnenuntergang

Marcus van Langen öffnet die Tür. Mit flacher Hand und augenscheinlicher Verbeugung deutet er seinem Besuch den Weg nach oben. Großzügig überlässt er den Vortritt. Droben, am Ende der Treppe, wartet bereits ein Sofa in rot darauf, besetzt zu werden. Es fristet sein Dasein in einem Raum, vor dem eine lebensgroße Ritterrüstung steht. Ein silberner Wächter mit leerem Panzerkleid.

Seine Position erlaubt es ihm, das Reich des Burgherren und Spielmannes Marcus van Langen zu hüten. Ein Reich, in das  sich der beste Minnesänger Deutschlands in Demut zurückzieht, wenn ihn der Staub der Straße wieder einmal zum Husten bringt. Hier findet er Zuflucht vor allen Blicken, die ihn schief treffen, und die mit seinem Untergang liebäugeln. In diesen vier Wänden kann er mit Stolz seiner ungezogenen Gestik und Mimik freien Lauf lassen, um in aller Stille ein Loblied auf seine Tüchtigkeit zu singen.

Drei Gitarren hängen an der einzigen, fensterfreien Wand. Eine davon: eine E-Gitarre. Auf dem Boden, unterhalb einer Fensterfront, liegt ein Zupfinstrument, das an eine Drehleiter erinnert. Vor einem Bücherregal steht ein Ohrensessel. Er hat das gleiche Rot wie der Samtbezug auf dem Biedermeier-Sekretär, der im gegenüberliegenden Eck steht. Ihn hat Marcus van Langen einst in mühseliger Handwerksarbeit vor dem Verfall gerettet. Als Sohn eines Bildhauers ein Leichtes für ihn.

Ein Gentleman serviert

Es ist Dienstagabend, halb sieben. Van Langen verschwindet kurz in seinem Gaißacher Einfamilienhaus, um Kaffee und zwei Gläser Wasser zu holen. „Jetzt habe ich noch Zeit, ab morgen ist wieder Stress angesagt“, beginnt er lächelnd die Unterhaltung. Vermutlich wäre es unhöflich, wenn er jetzt fluchen würde. Schließlich gehört die gewählte Sprache in seinen Handwerkskoffer. Alles andere wäre nicht standesgemäß und ein Verlust der Selbstkontrolle.

Nur in seinen Liedern röhrt er sich den Kummer von der Seele. Seine Texte handeln von Verletzungen, sowohl körperlicher als auch seelischer Natur, von derben Trinkgelagen, Liebe und Wollust. Und sie stammen aus einer Zeit, die Marcus van Langen mit seinem Gesang und seiner Musik wieder zum Leben erweckt: aus dem modernen Mittelalter. Weil die Menschen damals fürchteten, in die Hölle zu kommen, wenn sie sündigten, versuchten sie, die göttlichen Gebote einzuhalten. Wer sie missachtete, erntete harte Strafen.

Klare Regeln gebe es in der heutigen Zeit kaum noch, sagt van Langen. „Dabei haben die Menschen mehr denn je Sehnsucht nach einer greifbaren, überschaubaren Zeit.“. Wenn er heute 30-Jährige sehe, die „hoffnungslos überfordert“ seien, weil sie dem Druck und der Jagd nach Kohle nicht mehr gewachsen seien, sehe er seine Schmerzgrenze erreicht. „Diese Wracks, die nichts mehr können, sollen meine Rente zahlen?“

Just in diesem Moment, als das Bild seiner Galanz Stilbruch zu erleiden scheint, durchfährt plötzlich ein Ruck die Sitzfläche des roten Sofas. Hat van Langen sie mit seiner Aussage zum Leben erweckt? Zeigt sie sich solidarisch und will zusammen mit ihm die Stabilität verlieren? Doch der Minnesänger hat lediglich den Bewegungsschalter gedrückt. Versehentlich. „Meine Frau wollte das Sofa“, lächelt der Spielmann und zupft sein weißes Leinenhemd zurecht.

Ein Film mit Biss

Gesellschaftskritisch zeigt sich van Langen auch in seinem neuesten Projekt. Es ist ein Vampirfilm. Seit fast 15 Jahren liegt das Skript bei ihm in der Schublade. Im September 2018 zog er es zufällig wieder heraus. „Still dein Verlangen!“ heißt der Titel des in schwarz-weiß gedrehten Stummfilms. Van Langen selbst spielt darin sowohl den Protagonisten, den Vampir, als auch dessen Gegenspieler, den Vampirjäger. Es spritze viel Blut, sagt der gebürtige Tölzer. Eine alte Scheune dient seinem Filmteam, das vorrangig aus Freunden besteht, als Kulisse. Van Langens junge Frau hat eine kurze, wenn auch tragische Nebenrolle: van Langen beißt ihr die Kehle durch.

Der Film ist ein Herzensprojekt, das sich kultverdächtig anhört. Und wie alle Kultfilme, wird man ihn sich wohl immer wieder anschauen müssen, um immer wieder Neues zu entdecken. Zum Beispiel, dass der Vampir kein Böser ist und laut van Langen eigentlich „gar nichts tut“. Es ist vielmehr „der Wahn“ des Vampirjägers, dem er unterliegt. Van Langen zieht damit die Parallele zur Welt außerhalb des Films: „Auch wir sind Gejagte. Manche Menschen werden verfolgt, ohne wirklich etwas getan zu haben.“

Vampire sind gefährlich – oder etwa nicht?

Besonders an einer Filmszene macht er den Irrwitz der heutigen Zeit deutlich: Als der Vampirjäger – auf der Suche nach dem Vampir – den Menschen auf der Straße ein unscharfes Foto von ihm zeigt, zucken alle mit den Schultern. „Nie gesehen“, kommentieren sie. Doch selbst, als der Vampir auf einem anderen Bild deutlich zu erkennen ist, zucken sie desinteressiert mit den Schultern. „Die Menschen sind oberflächlich geworden und schauen nicht mehr, was um sie herum passiert“, sagt van Langen. „Sie nehmen andere gar nicht mehr wahr“. Van Langen lässt die Blutsauger los: Tagsüber sind sie unsichtbar, nachts unerträglich.

Bei van Langen kriegt jeder sein Fett ab. Er will polarisieren. Seine Kämpfe, sofern er welche ausfechten muss, wählt er allerdings mit Bedacht. Sein Schwert zieht er nur dann aus der Scheide, wenn der Gegner bewaffnet ist. „Ich kann keinen Menschen ernst nehmen, der kein Humorist ist.“ Van Langen steht auf, geht in Richtung Balkon und schiebt die Glastür beiseite. „Zeit für eine Zigarette“, sagt er und lächelt. Im schwachen Dunst des Tabakrauchs deutet er auf eine Ruine im Garten.

Van Langens Kunstwerk im Garten – mit Vagina-Fenster

„Eigentlich keine echte“, schmunzelt er und erzählt, wie einer vom Bauamt auf das Ding aufmerksam wurde, nachdem die Hecke gestutzt war. „Was is’n mit dem Bauwerk in deinem Garten?“ hatte dieser van Langen gefragt. „Welches Bauwerk? konterte van Langen. „Das ist ein Kunstwerk.“ Seither wird eben nicht im eigenen Garten gegrillt. Eine Vagina als Fenster ist Feuer genug und kann unter Umständen auch sattmachen.

Van Langens GreenCard zum Blues

Die Schnauze voll hat Marcus van Langen besonders von Amerika. Schon in den 90er Jahren fand der Blues-Fanatiker Gefallen am ungebundenen Leben, also zog es ihn ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, genauer gesagt nach Kalifornien. Hier wollte er sein musikalisches Können in den verschiedensten Pubs unter Beweis stellen. Aber der erhoffte Erfolg blieb aus. Irgendwann sei ihm das Geld ausgegangen, erinnert sich van Langen, der inzwischen wieder auf der roten Couch Platz genommen hat. Mit der „Grünen Karte“, der Monatskarte für das Münchner MVV-Netz, die er damals in seinem Portemonnaie fand, habe er sich die amerikanische GreenCard ergaunert.

Van Langen setzt sein Spielgesicht auf und nimmt einen Schluck aus seinem Wasserglas. Seine Mimik beim Lachen bleibt unverändert, als er erzählt, wie ihn die Polizei damals in Handschellen abführte. Sein Abflug sei schnell und kostenlos gewesen. Die Rechnung dafür habe er später bekommen. Zahlen konnte er sie nicht. Genausowenig wie er seither nach Amerika reisen konnte. Mit seiner Abschiebung hatte er zu kämpfen. Die einzige Therapie, mit dem Verlust seines Traums zurechtzukommen war die, den Ursprung des Blues nicht mehr der afro-amerikanischen Gesellschaft zu suchen, sondern im deutschen Minnegesang. Sein Heilmittel funktionierte. Getreu dem Motto „Was die können, können wir schon lange“ startete er einen Kreuzzug, der für die strategische Ausrichtung seiner Musik in Deutschland ausschaggebend war.

Ein Ritter mit Leidenschaft

Als armer Spielmann sang er sich fortan mit den Versen von Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuental oder Oswald von Wolkenstein durch Zeit und Raum. In den Ohren weniger mögen die mittelalterlichen Texte schmutzig und zweideutig geklungen haben, andere verstanden sie erst gar nicht. „Ey, isch sage Dir jetzt drei Wörter“, soll ihm bei einem seiner Auftritte ein männlicher Zuschauer zugerufen haben, „Hau ab!“ Wieder lächelt van Langen, als er in diesen Erinnerungen schwelgt. Auch dieses Mal schaut er nicht aus wie ein Engel.

Von seinem Blick erstarrt des Menschen Blut. Von seinem Biss trieft es akut. Quelle: M. van Langen

Er liebt die stilvolle Auseinandersetzung – insbesondere mit der volkssprachlichen Dichtung. Was er ganz und gar nicht liebt, das sind dumme Leute. Wobei für ihn das Wort „dumm“ nicht mit einem Mangel an Intelligenz erklärt ist. Eher mit einer Form der Unhöflichkeit. Eine, gegen die er sich nicht mit seinen Fäusten oder mit seinem Schwert, das er im Schrank hat, wehrt. Er hat besser klingende Werkzeuge, um sich Gehör zu verschaffen: Seine Gitarre und seine Stimme.

Van Langens Frau Angela betritt den Raum. Mit ihren langen schwarzen Haaren, der schwarzen Hose und dem schwarzen Shirt ist es, als wolle sie die Düsternis der Welt, die van Langen in seinen mittelalterlichen Liedern besingt, in diesem Moment mit ihrem Outfit bestätigen. Schweigend setzt sie sich. Van Langen nickt ihr wohlwollend zu, unterbricht sich aber nicht. Wenige Minuten später geht seine bessere Hälfte genauso lautlos zur Tür hinaus, wie sie gekommen war.

Im Auftrag des Teufels

Van Langen hat mehrere Spleens. Einer davon ist seine Leidenschaft fürs Sammeln. Seine Comicfiguren aus den 70er Jahren fand er genauso wie einst seine weinende Angela auf dem Kaltenberger Ritterturnier. Er sei schließlich Spielmann, sagt er. Deshalb sei er sich seiner Aufgabe damals vollauf bewusst gewesen, als er sie einsammelte. Nicht ohne Grund verpasste er seiner mittelalterlichen Rock-Band wohl den Namen „Des Teufels Lockvögel“. Und nicht umsonst hat er inzwischen elf CD’s und ein mittelalterliches Liederbuch herausgebracht und ist er gefragter denn je bei Banketten, Ritterturnieren und Ritteressen.

Das Leben ist ein Spiel. Sein Spiel. Eines, das jetzt gespielt werden muss. Nicht in der Zukunft. „Ein Narr, der Dinge auf morgen verschiebt“, sagt van Langen und grinst ein Grinsen, das ihn in diesem Augenblick unsterblich macht. Nicht, weil es so umwerfend ist oder Jahrhunderte im Gedächtnis bleibt, sondern weil es Zähne zeigt. Van Langen beherrscht eben die Regeln. Genau deshalb ist sein Charakter zeitlos, hält er sich in Räumen auf, in der Zeit keine Rolle spielt. „Ich bin ein Fan der Menschheit“, sagt Al Pacino in dem Film „Im Auftrag des Teufels“. Und wenn die Tugend erst triumphiert, dann ist es, als kraule Marcus van Langen – von den Zuschauern unbeobachtet – seinen Spitzbart.

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