Freitag, März 29, 2024

Die Welt ist ON LINE

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Die Welt ist ON LINE

Klein und dick? Wischen wir nach links. Verheiratet? Scrollen wir beiseite. Der Typ mit dem schicken Auto? Bleibt. Das sympathische Lächeln neben dem Bernhardiner? Merken wir uns. Groß und blond? Da regt sich nicht nur der Daumen. Verheiratet? Egal. Die Brünette mit Brust-OP? Passt ins Beuteschema. Der hinreißende Augenaufschlag neben den fünf Kindern? Weggewischt.

Das alte Spiel zwischen Mann und Frau hat sich verändert. Wie so vieles. Heute entscheidet der rechte Daumen, ob der oder die Angebetete ins Nichts gewischt wird oder aber auf dem Display des Handys verweilen darf. Die mobile Dating-App „Tinder“ macht’s möglich. So flirtet man eben auf moderne Art und Weise: Mit einem Wisch. Mit einem Wisch ist sie weg oder er da.

Zurück bleiben oft nur das Glücksgefühl des „Online-Einkaufs“ und die Daten eines im virtuellen Warenkorb gespeicherten Menschen. Einen Alltag ohne Smartphone kann sich heute kaum jemand mehr vorstellen. Ständig ist es griffbereit. Mails müssen gecheckt, SMS verschickt, Nachrichten beantwortet und Telefonate geführt werden: Alles wird unterwegs und nebenbei erledigt. Im Nacken sitzt dabei unbeirrt die Angst, etwas zu verpassen.

Illustration: Michelle Woudstra

FOMO oder “Fear of missing out” nennt sich das Phänomen, das tagtäglich mitgeschleppt wird. Es tritt in allen Altersklassen auf. Jeder will dazugehören, mitreden, und die Sicherheit in der Hand haben, nicht allein zu sein. Vor zehn Jahren kamen die ersten Smartphones auf den deutschen Markt. Heute sind sie überall. Wie Wellen breiten sie sich aus, senken die Blicke ihrer Besitzer, verursachen Nackenschmerzen und machen sich unverzichtbar.

Alle zwölf Minuten etwa entsperrt der durchschnittliche Nutzer sein Smartphone. Für den Blick aufs Handy werden Tätigkeiten am Tag bis zu 100-mal unterbrochen. Die Welt da draußen auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, WhatsApp, Liveblogs und Co. will geteilt, geliked und kommentiert werden. Dabei ist das ständige Herumtippen weder gesund noch effektiv, in gewisser Weise sogar kindisch.

Illustration: Michelle Woudstra

Facebook jedenfalls hat sein Ziel erreicht, so viel Zeit und Aufmerksamkeit wie möglich von seinen Nutzern zu bekommen. Dessen Mitbegründer Sean Parker, inzwischen Milliardär, gab im Rahmen einer Rede im National-Constitution-Center in Philadelphia zu, dass er und andere Facebook-Mitarbeiter für dieses Ziel bewusst psychologische Mechanismen ausgenutzt hätten. Denn jeder fahre auf diesen kleinen Dopamin-Schuss ab, der durch Likes und Kommentare abgegeben wird, sagt er.

Ein Schuss, der – ständig verabreicht – süchtig macht. Heute distanziert sich Parker von Facebook und erklärt: „Nur Gott weiß, was es mit den Gehirnen unserer Kinder macht.“ Auch Politiker, Pädagogen und Datenschützer warnen inzwischen vor den Gefahren sozialer Netzwerke. Lässt sich die Menschheit online gerade das reale Leben klauen? Wird sie zum hibbeligen Handy-Voyeur anstatt zum tatkräftigen Puzzleteil der Wirklichkeit? Fakt ist: Die Prioritäten wechseln.

Der Schwerverletzte muss erst schnell fotografiert werden, bevor ihm geholfen wird. Der Malediven-Urlaub ist so gut wie versaut, wenn das Handy zuhause auf dem Küchentisch vergessen wurde. Die Rolltreppe im Kaufhaus wird stolpernd übersehen, weil in der Tasche das Handy klingelt. Die gutaussehende Frau am Nebentisch ansprechen? Es gibt Wichtigeres zu tun. Auf Tinder.

Illustration: Michelle Woudstra

Auch wenn der Halswirbel beim Dauerstarren aufs Smartphone abnutzt – egal. Wir erfahren ja bei Google, wie dieses Problem gelöst werden kann. Abschalten geht also nicht mehr. Zu groß ist der Druck und die innere Unruhe, ständig in mobiler Habachtstellung zu sein. Ein Zwang, der krank machen kann. Bei vielen löst die bloße Vorstellung, einmal nicht erreichbar zu sein, eine regelrechte Panikattacke aus.

Da sind wir wie Pawlowsche Hunde, erklärt die am Tegernsee aufgewachsene Dozentin für Literaturwissenschaften Dr. Daniela Otto in ihrem Buch „Digital Detox“ – digitale Entgiftung: Das Handy klingelt und wir fangen – sinnbildlich gesprochen – an zu sabbern. Unsere Vernetzungssehnsucht verdammt uns deshalb nicht selten zu Sklaven der modernen Kommunikation. Doch es geht auch anders: Wer raus will aus diesem Netz, der muss wieder mit realen Menschen reden und seine Umgebung mit allen Sinnen wahrnehmen.

Er muss den Mut haben, auch mal offline zu sein, damit er dem täglichen digitalen Wahnsinn entkommen kann. Und das wiederum bedeutet, den Willen zu haben, allein zurechtzukommen und damit umzugehen. Vor allem aber muss er das Heilversprechen der Vernetzungsmedien „Du bist nicht allein“ als Lüge enttarnen. Die digitalen Medien wissen nämlich, dass der Mensch psychologisch gesehen den Urschmerz der Einsamkeit nicht erträgt.

Illustration: Michelle Woudstra

Deshalb gaukeln sie Nähe vor, wo keine ist, wahren Distanz, wo ebenfalls keine ist. Ihre Nutzer tippen lieber als zu telefonieren. Auch das wissen sie. Nach dem Motto: Sieht mich ja keiner. So gibt sich der Beziehungssuchende der Illusion hin, nicht allein zu sein, und lebt gleichzeitig das, wovor er im echten Leben Angst hat. Nur: Die virtuelle Welt wird ihn nicht befriedigen.

Es ist nicht die stärkste Spezie, die überlebt,
auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige,
die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann. (Charles Darwin)

Im Gegenteil: Die Abhängigkeit von Klicks und Likes baut bei ihm künstlichen Stress auf. Reale Gefühle entwickelt er nicht mehr für Menschen, sondern für sein Smartphone. Diese Liebesneuronen sind sogar wissenschaftlich nachweisbar. Aus diesem Grund muss diese substanzgebundene Sucht ernst genommen und bewusst damit umgegangen werden.

Digital-Detox-Apps sollen dabei helfen. Oder Camps tief in den Wäldern von Kalifornien, in denen Menschen lernen, ohne Internet und Smartphone auszukommen. Denn was passiert wirklich, wenn eine Nachricht mal nicht beantwortet wird? Die Antwort ist: Nichts. Der Impuls, das Smartphone zu zücken, ist nämlich nichts als reine Gewohnheit. Eine, die es in Zukunft zu durchbrechen gilt, will man nicht mit seinem Handy – oder vielleicht sogar anstatt desselben – irgendwann beerdigt werden.

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